
Es ist eine Entwicklung, die ich selbst erst nach und nach bemerkt habe: Unerwartete Telefonate stressen mich heute viel mehr als früher. Früher mochte ich Telefonate zwar auch nicht besonders, aber sie waren zumindest kein direkter Stressfaktor. Doch heute? Ein unerwarteter Anruf reißt mich komplett aus meinem Fokus und hinterlässt oft ein Gefühl der Überforderung. Aber warum ist das so? Was hat sich verändert, dass der persönliche Kontakt in einem kurzen Telefonat plötzlich als Störung empfunden wird?
Die Flut an Impulsen und Reizen in der modernen Welt
Unsere heutige Welt ist voller Impulse, Informationen und Inspirationen, die ständig auf uns einwirken. Social Media, E-Mails, Nachrichten – wir sind jederzeit und überall erreichbar. Diese ständige Verfügbarkeit sorgt dafür, dass unser Gehirn permanent Reize verarbeiten muss.
➡️ In einem Bericht der American Psychological Association wurde aufgezeigt, dass der ständige Informationsfluss zu einer Überlastung des Arbeitsgedächtnisses führt. Das Gehirn hat Schwierigkeiten, sich auf eine Aufgabe zu konzentrieren, wenn ständig neue Informationen hereinkommen.
Diese Reizüberflutung führt dazu, dass wir uns aktiv auf bestimmte Aufgaben konzentrieren müssen, um sie gründlich zu bearbeiten. Unerwartete Telefonate durchbrechen diesen konzentrierten Zustand, und plötzlich befinden wir uns in einem anderen Kontext, der nicht geplant war.
➡️ Der Psychologe Daniel Levitin, Autor des Buches „The Organized Mind“, erklärt, dass unerwartete Unterbrechungen wie Telefonate unsere Aufmerksamkeitssprünge erhöhen und das Gefühl von Stress verstärken.
Jedes Mal, wenn wir aus einer Aufgabe herausgerissen werden, braucht das Gehirn Zeit, um wieder den Fokus zu finden – das kostet Energie und erzeugt Unruhe.
Der Wandel in der Art der Kommunikation
In den letzten Jahren hat sich die Art und Weise, wie wir kommunizieren, stark verändert. Textnachrichten, E-Mails und Messenger-Dienste haben Telefonate in vielen Bereichen abgelöst. Während Anrufe früher der Standardweg waren, um schnelle Informationen auszutauschen, sind sie heute oft unvorhersehbare Unterbrechungen. Der große Vorteil von Textnachrichten ist, dass sie asynchron sind: Wir können antworten, wenn es uns gerade passt. Sie lassen uns Raum, unsere Zeit selbst zu managen und den Fokus auf unsere Prioritäten zu legen. Anrufe hingegen erfordern sofortige Aufmerksamkeit und eine spontane Reaktion.
➡️Sherry Turkle, eine Forscherin für Kommunikationspsychologie am MIT, beschreibt diesen Wandel in ihrem Buch „Reclaiming Conversation“. Sie erklärt, dass viele Menschen Telefonate heute als invasiv empfinden, weil sie keine Vorwarnung bieten und uns aus dem Kontext reißen. In einer Welt, in der wir ständig versuchen, unsere Zeit zu kontrollieren, werden unerwartete Anrufe als Verlust dieser Kontrolle wahrgenommen.
Das erklärt auch, warum ich mich nur noch aktiv zum Telefonieren verabrede: Ich möchte entscheiden, wann und wie ich meine Energie aufbringe und nicht von einem unerwarteten Impuls abgelenkt werden.
Der Stress unerwarteter Telefonate
Die Fähigkeit, sich auf eine Aufgabe zu konzentrieren, ist heute kostbarer denn je. Wir jonglieren täglich mit so vielen Aufgaben, dass wir aktiv darauf achten müssen, unseren Fokus zu halten. Ein unerwartetes Telefonat bringt uns nicht nur aus dieser Konzentration heraus, sondern erzeugt auch einen „Kognitiven Wechselkosten-Effekt“, wie Neurowissenschaftler*innen es nennen. Jedes Mal, wenn wir zwischen Aufgaben wechseln, entsteht ein kurzfristiger Verlust an Produktivität und geistiger Klarheit.
➡️ In einer Studie von Gloria Mark wurde festgestellt, dass es im Durchschnitt 23 Minuten dauert, bis man nach einer Unterbrechung wieder zur vollen Konzentration zurückkehrt.
Für mich bedeutet das: Ein unerwarteter Anruf wirft mich aus meinem Rhythmus und zwingt mich, den Fokus zu wechseln – was Stress und Unruhe verursacht. Hinzu kommt der Druck, sofort reagieren zu müssen, was die Situation weiter verschärft. Während ich mich früher zumindest geduldet fühlte, habe ich heute das Bedürfnis, meine Zeit und meine Energie besser zu schützen.
Was hat sich verändert?

Doch warum empfinde ich diesen Stress heute viel stärker als früher? Es scheint, als hätte sich nicht nur die Art der Kommunikation verändert, sondern auch meine eigene Wahrnehmung. Wir leben in einer Zeit, in der Produktivität und Effizienz oft im Vordergrund stehen. Alles, was uns von unseren Aufgaben ablenkt, wird schnell als Störung empfunden. Dazu kommt der ständige Wunsch, die Kontrolle über den eigenen Tagesablauf zu behalten. Unerwartete Telefonate widersprechen diesem Bedürfnis nach Selbstbestimmung und lösen deshalb Stress aus.
Ein weiterer Faktor ist das zunehmende Bewusstsein für die eigene mentale Gesundheit. In einer Welt, die von ständiger Erreichbarkeit geprägt ist, versuchen viele von uns, gezielt Räume für Ruhe und Fokus zu schaffen. Der Umgang mit mentaler Überlastung wird heute offener thematisiert und wir sind uns bewusster darüber, wie wichtig es ist, unsere Energie zu schützen.
Wie geht es dir damit?
Vielleicht empfindest du das ähnlich. Telefonate, die früher als normal galten, können heute schnell als invasiv und störend empfunden werden. Doch ist das wirklich ein Zeichen unserer Zeit? Oder haben wir einfach neue Wege gefunden, wie wir unsere Kommunikation und unsere Energie besser managen können?
Vielleicht liegt die Lösung darin, bewusster mit unserer Zeit umzugehen und Kommunikationswege aktiv zu gestalten, anstatt uns von ihnen überrennen zu lassen.
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